JÜRGEN KISTERS | DER TRAUM DER MALEREI | oder: Die Sehnsucht nach der (verlorenen) Einheit
Malerei ist in der Tradition der abendländischen Kunst spätestens seit der Renaissance vor allem individueller Ausdruck Dabei wird leicht vergessen, dass der malende Mensch keineswegs nur ein unverwechselbares Individuum ist, sondern alle seine Regungen und Eigenwilligkeiten von Geburt an von der Kultur geprägt sind, in der er aufwuchs. Es gibt keine individuelle Erfahrung, die nicht kulturvermittelt wäre, lautet die Einsicht.
Interessant wird diese unhintergehbare psychologische Tatsache vor allem dann, wenn ein Mensch unter dem Einfluss von zwei Kulturen aufwuchs. So wie Seong-Hi Kang, die im Jahr 1958 Seoul zur Welt kam und ihre ersten Lebensjahre in Korea verbrachte. Dort lernte sie das Gehen, das Sprechen und das Sehen.
Dort lernte sie, geprägt von Kindesbeinen an, ihre ersten Selbstverständlichkeiten im Umgang mit den Dingen, den anderen Menschen und sich selbst. Als sie dreizehn Jahre alt war, entschied ihre Mutter allerdings, zur Arbeit nach Deutschland überzusiedeln. Und Seong-Hi Kang hatte wie alle Kinder keine Wahl. Mitten im nicht abgeschlossenen Entwicklungsprozess ihres Aufwachsens musste sie die Vertrautheit ihrer bisherigen Lebensumgebung, ihrer Heimat, ihrer Sprache und ihrer alltäglichen Tätigkeiten aufgeben. Und sie fand sich in der deutschen Stadt Viersen wieder, in der sie nur ganz langsam und mit viel Unsicherheit eine neue Vertrautheit entwickelte.
„Ich habe mich lange Zeit in Deutschland fremd gefühlt. Durch die fremde Sprache und die fremden Umgangsformen in der anderen Kultur. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte“, erklärt sie. Heute, vierzig Jahre später, sagt sie: „Ich bin dort zu Hause, wo ich in Ruhe malen kann“. Sie meint damit ihr Atelier und ihre Wohnung in der Südstadt von Köln, wo sie seit zwanzig Jahren lebt und ihre zart und rätselhaft erscheinenden Zeichnungen, Malereien und Skulpturen entstehen lässt. Kunstwerke, die alles enthalten, was die Kunst seit Jahrtausenden so verführerisch, so bezaubernd, so geheimnisvoll und anschaulich zwingend macht. Kunstwerke, die zweifellos davon bestimmt sind, dass Seong-Hi Kang in zwei ganz unterschiedlichen kulturellen Einflusszonen aufwuchs. Davon bestimmt, dass in der einen Kulturzone, in Korea, ihre kindlichen Erfahrungen geprägt wurden, von denen sie zugleich gegen Ende der Kindheit abrupt abgeschnitten wurde. Und dass sie in der anderen Kulturzone, in Deutschland, nicht nur wie alle Menschen im Alter der Pubertät ihren Freiheitswillen und ihren bewussten Identitätsentwurf ausformte, sondern auch die Kunst als ihr Element entdeckte. Sie begann zunächst mit einem Interesse für Design, um dann an der Fachhochschule in Köln Malerei zu studieren. Der Bereich der künstlerischen Gestaltung war für sie nicht gänzlich neu; ihr Vater war Bildhauer in Korea. Und dennoch war die Kunst in Form der Malerei für sie die Entdeckung einer „neuen“ Welt, in der es möglich wurde, die ganz unterschiedlichen Einflüsse ihres Lebens in verschiedenen Kulturen zusammenfließen zu lassen und in eine Art Einheit zu bringen. Eine offene Einheit, denn in ihren Bildern tauchen die Figuren und Gegenstände stets in einem Zustand der Schwebe auf, mit viel Weiß und viel offenen Raum um sie herum.
Fast ist es, als huschten die Figuren nahezu heimlich in ihre Bilder hinein. Oft genug weiß man nicht, ob es sich um Figuren oder Formen handelt, die in der Entstehung oder im Verschwinden begriffen sind. Äußerst verhalten ist Seong-Hi Kangs Farbgebrauch. Weiße und graue Töne bestimmen den Grundklang, in dem die Malerin häufig mit Rot oder Blau oder einem gehauchten Gelb farbige Akzente setzt. Zuviel Farbe, zuviel Buntheit bedrohe das Gefühl von Stimmigkeit, das sie suche, erklärt sie. Und um genau diese Stimmigkeit geht es. Sie steht gleichermaßen am Anfang und am Ende ihres malerischen oder zeichnerischen Prozesses. Seong-Hi Kang geht grundsätzlich intuitiv vor. Das Bild entwickelt sich erst allmählich beim Malen. Die Motive erscheinen plötzlich und undurchsichtig wie die Gestalten in einem nächtlichen Traum. Und tatsächlich erinnern ihre Bilder an unser nächtliches Träumen, indem genau wie im Traum unterschiedliche Elemente von Tageserlebnissen und von Erinnerungen, speziell Kindheitserinnerungen, völlig abstrus und zugleich fließend ineinander greifen und einen „zusammenhanglosen Zusammenhang“ ergeben. Wünsche und Ängste und allerhand vertrackte Situationen, die in gleichermaßen komischenn und dramatischen Motiven die unauflösbaren Ambivalenzen in unserem seelischen Geschehen sichtbar werden lassen. Das Unbewusste malt bei ihren Bildern stets mit, und sie verlässt sich ganz auf die Eigenwilligkeit dieses Vorgangs Meisterlich verbindet Seong-Hi Kang in ihrer Kunst eine kindliche Bildsprache mit der souveränen Komposition einer freien Figürlichkeit, die Elemente der expressionistischen Zeichnung und Malerei ebenso enthält wie die alle Kategorien sprengende bildnerische Ungezwungenheit eines künstlerischen Außenseiters wie Henri Michaux. Seong-Hi kang hat kein festgelegtes Thema. Menschen und Tiere stehen im Zentrum ihrer Bilder. Oft auch Wesen, in denen Menschen und Tiere ineinander übergehen. Die Wesen wirken äußerst unbeholfen und verletzlich, sogar dann noch, wenn sie monströse Züge haben. Es sind Wesen zwischen Belagerung und Entfaltung, getrieben von äußeren Umständen und der Kraft ihres eigenen Begehrens. Jedes Bild führt auf verschlungenen Pfaden in die Gefilde unbekannter seelischer Zonen. Und beim Betrachten ihrer fertigen Bilder ist selbst immer wieder überrascht, dass all das in ihr steckte. Sie kann die Bilder nicht erklären, aber es gibt viele mögliche Deutungen.
Seong-Hi kang erzählt mit jedem ihrer Bilder Geschichten, Träume, Märchen. Sie alle handeln vom Ungreifbaren. Von dem, was unaussprechlich ist. Es sind Geschichten, die sich in einem Bereich jenseits unserer Alltagsvernunft entfalten. Und die doch mitten in die Ängste, Wünsche, Absurditäten und Unsicherheiten unseres Alltags hineinführen. Wir erzählen uns Geschichten vom Leben, um das Leben (besser) zu ertragen. Und die Geschichten, die Seong-Hi Kang erzählt, handeln allesamt vom Kunststück, zwischen den in alle Richtungen zerrenden Regungen unser Leben im Gleichgewicht zu halten. Ohne psychologische Absicht schafft Seong-Hi Kang sehr psychologische Bilder. Verunsicherung, vielleicht sogar Zerrissenheit zeigen sich darin. Sehnsüchte und Unzulänglichkeiten, Furcht und Mut prallen offen aufeinander. Nicht selten erscheint der Mensch als ein Gefangener. Und dann wieder als ein zuversichtliches Wesen, das wie ein Vogel von der Erde abhebt. So wie Intuition für Seong-Hi Kangs Malerei wichtig ist, ist Leichtigkeit für sie wichtig. Sie sucht Leichtigkeit. Anders gesagt: Der Schwere des Lebens stellt sie die Leichtigkeit der Malerei entgegen. Als sei Malerei immer auch eine „Strategie“, die harten Fakten der Welt überschreiten zu können.
Zu den Bildern von Seong-Hi Kang lässt sich viel sagen, ohne dass sich ihr Rätsel darüber auflösen würde. So führen sie unweigerlich zu der Erkenntnis, dass das menschliche Leben grundsätzlich ein Rätsel ist. Und das gilt für den Menschen in allen Kulturen. „Ich will nicht Koreanerin oder Deutsche sein. Das schränkt mich als Künstlerin nur ein“, erklärt Seong-Hi Kang. Wenn ein Mensch in zwei unterschiedlichen kulturellen Einflusszonen aufgewachsen ist, bestimmt diese Erfahrung unweigerlich sein ganzes weiteres Leben. Er spürt immer diese Halbiertheit, dieses Gespaltensein zwischen den Kulturen. Das ist die Erfahrung, die gemeinhin untrennbar mit dem Prozess der „Migration“ einhergeht. Im künstlerischen Ausdruck der Malerei ist diese Erfahrung vielleicht am besten zum Ausdruck zu bringen, indem ihre individuelle und ihre kulturelle Dimension ebenso sichtbar gemacht werden können wie die grundsätzliche Unaussprechlichkeit im Leben einer Wanderin zwischen den Kulturen. Seong-Hi Kangs Bilder zeigen, was passiert, wenn das Individuum aus der Sicherheit einer kulturellen Prägung heraus fällt. Es gerät in einen unbekannten Zwischenraum, in dem die Elemente des Lebens mehr in Übergang und Verwandlung erscheinen als dass sie Elemente einer beständigen Ordnung darstellten. „Im Grunde ist die zweite Kultur eine Bereicherung“, sagt Seong-Hi Kang. Schwierigkeit und Möglichkeit liegen von Kindesbeinen aufs Äußerste nah beieinander. So trifft der Hauch der (koreanischen) Kindheit in Seong-Hi Kangs Bildern auf den Atem der (deutschen) Erwachsenenzeit. Die für immer unauflösbare Verbindung von beiden erscheint ebenso dramatisch wie komisch. Seong-Hi Kang gelingt es auf eine einzigartige Weise, eine (malerische) Brücke zwischen den Erfahrungen von Kindheit und Erwachsenheit zu schlagen. Mit ihrer ganz individuellen Bildsprache macht sie dabei zugleich sichtbar, dass ein Leben mit dem Gewicht zweier Kulturen unweigerlich über die Begrenztheit des traditionellen Kulturbegriffs hinausführt. Wer ist dieser Mensch, der ich selber bin? So lautet die mit jedem Bild von Seong_hi Kang immer wieder neu gestellte Frage. Und die Antwort gab einst der Maler Vincent van Gogh in seinen Briefen: „Es ist sehr schwer, sich selber zu kennen“. Und darum wird Seong-Hi Kang nicht umhin können, weiter zu malen.
Köln-Höhenhaus, im Februar 2012