Thomas von Taschitzki | Metamorphosen des Figuralen

Von allen Gattungen der bildenden Kunst ist die Zeichnung diejenige, in der die Einbildungskraft, der spontane Einfall und die persönliche Handschrift eines Künstlers in besonders direkter und lebendiger Weise Gestalt annehmen können. Im Werk der Künstlerin Seong-Hi Kang ist das Zeichnen seit langem von zentraler Bedeutung. Ihre ungemein zahlreichen gezeichneten Einzelblätter und Zeichenbücher offenbaren einen ganz eigenen, reichhaltigen Kosmos figuraler linearer Erfindungen. Zarte, gleichmäßig gezogene Bleistiftlinien umschreiben Umrisse figuraler Konstellationen von ebenso reduzierter wie poetisch verdichteter Natur.

In den nur durch wenige Merkmale angedeuteten Körpergebilden manifestiert sich eine ungewöhnliche subjektive Vorstellungswelt und sie berühren gerade durch ihren hohen Abstraktions- und Reduktionsgrad auch beim Betrachter jenen Bereich innerer Phantasiebilder, dem sie selbst entspringen. Alles scheint möglich zu sein in Seong-Hi Kangs gezeichneten Symbiosen und Metamorphosen, in denen sich Tiere auf Köpfen niederlassen oder menschliche und pflanzliche Formen ineinanderfließen können. Indem sie mit sensiblen Linien nur das Nötigste andeutet, lässt die Künstlerin der Imaginationskraft ebenso viel Freiraum wie dem weissen Grund des Papiers. Dessen Leere wird durch das Gezeichnete gleichsam aktiviert und wandelt sich vom passiven Medium zu einem essentiellen Element der Gestaltung. Das weisse Rechteck des Papiers, aber auch die in hellen, lasierenden Tönen grundierten Flächen ihrer grossen Leinwandbilder entwickeln im Zusammenspiel mit den gezeichneten oder gemalten Szenerien die Wirkung von weiten, unbestimmten Räumen der Imagination, in denen die Gesetze der Erfahrungswelt aufgehoben sind.

Der Gravitation und Kausalität enthoben, befinden sich die figuralen Erfindungen in der Schwebe, und das sowohl im physikalischen wie auch semantischen, bedeutungsbezogenen Sinne. Die Phantasie der Künstlerin ist gepaart mit der Gabe, aus wenigen Elementen metaphorisch aufgeladene vieldeutige Situationen und Konstellationen zu erschaffen, in denen sich unterschiedlichste Ausdrucksnuancen überlagern. Oft mischt sich das Unheimliche, Rätselhafte mit dem Skurrilen oder Grotesken und das Strenge, Archaische mancher Figurationen enthält mitunter auch ironisch-heitere Züge. Durch die Konzentration auf einzelne Figuren und die Betonung überdimensionaler Kopfformen entfalten selbst kleine Zeichenblätter eine in gewisser Weise monumentale Wirkung.

Eine Besonderheit stellen Blätter dar, deren Linien Seong-Hi Kang durch die Perforation des Zeichenpapiers erzeugt. Der ununterbrochene Fluss der Bleistiftlinie verwandelt sich dort in den gleichmäßigen Rhythmus dünner Nadelstiche. Das Papier kommt als materieller Körper ins Spiel und die Geste des – im Vergleich zum Ziehen einer Bleistiftlinie – mühsamen, kontinuierlichen Einstechens verleiht den daraus hervorgegangenen Bildern besondere Intensität und Konzentration. Die bereits erwähnte asketische Reduzierheit vieler Arbeiten erfährt in diesen Blättern noch eine Steigerung, denn die Formen ergeben sich allein aus dem Zusammenspiel zweier Arten von Leere: der Papierfläche und ihrer punktuellen Negation, dem Loch.

Dass sich die Strenge der Formen mitunter auch im wahrsten Sinne verflüssigen kann, zeigt sich in den Aquarellen und Acrylbildern von Seong-Hi Kang. Insbesondere die Acrylbilder sind geprägt von einem intensiven Interesse an den Ausdrucksmöglichkeiten von Farbe. Dünn aufgetragene Lasuren erzeugen auf malerischer Ebene jenen Zustand der Schwebe, der in den Zeichnungen auf andere Weise hervorgerufen wird. Und auch das Moment des Monumentalen wird in manchen großformatigen Acrylbildern unmittelbar wirksam, wenn etwa eine Kopfform zwei Drittel der Bildhohe einnimmt. In einer neuen Serie kleinformatiger Leinwandbilder entwickelt die Künstlerin einen geradezu systematischen Umgang mit Farbe, Form und Anordnung ihrer Bilder. Der Bildaufbau ist geprägt durch streng rechteckige, einander farblich überlagernde Felder von Lasuren, die im Kontrast zu organischen, hellen figuralen Elementen stehen. Zu jedem dieser Bilder, die von Farbtönen wie Blau, Gelb und Rotbraun dominiert werden, malt Seong-Hi Kang ein entsprechendes, formal exakt gespiegeltes zweites Bild in Graustufen. Im bewussten Kontrast zu den geometrischen Farbflächen heben sich die figurativen organischen Motive wie emblematische Chiffren einer geheimen Symbolsprache ab. Zu größeren Bildfeldern eng nebeneinander gehängt, entwickeln diese Arbeiten einen beinahe ornamentalen Charakter, denn die an sich verschiedenartigen individuellen Bilder fügen sich zu einem gleichmäßig rhythmisierten Feld aus Gegensätzen wie hell/dunkel, geometrisch/organisch oder konstruktiv/figurativ.

Mit diesem gleichsam konzeptionellen malerischen Vorgehen hebt Seong-Hi Kang ihr bis dahin primär intuitiv geleitetes bildnerisches Schaffen auf eine reflektiertere Ebene. Spontaneität und Kalkül gehen eine neue Synthese ein, wenn die Künstlerin die im unvorhersehbaren Prozess des Zeichnens gefundenen figuralen Gebilde in gemalte Kompositionen transformiert.

 

Thomas von Taschitzki (Kunsthistoriker)